„Stärker als Borderline“
Ein Trainings- und Übungsbuch

 

„Stärker als Borderline“ von Debbie Corso richtet sich als ein therapie-begleitendes Trainings-Buch insbesondere an Menschen mit einer diagnostizierten Borderline-Persönlichkeits-Störung. Profitieren können von ihm zudem Personen mit stark erhöhter emotionaler Sensibilität und mit Verhaltensmustern, die einer emotionalen Dysregulation ähneln.

Mit seinen viele Übungen bietet es auch Menschen ohne Krankheits-Diagnose einen großen Nutzen. Es kann uns helfen, emotional schwierige Lebenslagen, wie die gegenwärtigen Krisenzeiten, besser zu bewältigen.

Debbie Corso, Stärker als Borderline. Wie Du mit DBT dein Gefühlschaos kontrollieren kannst. Herder Verlag Freiburg Basel Berlin 2018. 204 Seiten. Klappenbroschur. 22,00 €.


Aus zwei Gründen möchte ich Ihnen dieses Buch ans Herz legen: Die Art, in der es ein schwieriges Thema auf einfache, verständliche Weise behandelt. Und die Zuversicht, die aus ihm spricht.

Es verspricht kein sorgenfreies, unbeschwertes Leben, aus dem, wie von Zauberhand, schmerzvolle Erfahrungen und Herausforderungen verbannt sind. Es will seine Leser:innen dabei unterstützen, mit sich selbst und ihrer Umwelt so weit klar zu kommen, dass selbstbestimmtes, situationsangemessenes Handeln zur Verwirklichung eigener Werte und Ziele leichter wird.


Yes, you can

Debbie Corso, mit bürgerlichem Namen Debbie De Marco Bennett, ist ihr eigenes Testimonial. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit anderen Betroffenen zu teilen. Heilung ist möglich, so ihre Botschaft. Ein Ausbrechen aus einem von Drama, emotionalem Chaos und einer endlosen Kette persönlicher Krisen und Katastrophen geprägten Leben ist machbar. „Yes, you can“.


Ein Arbeitsbuch für reales Alltagshandeln

Debbies Corsos Buch ist ein psycho-edukatives Arbeitsbuch, das viele praktischen Übungen enthält. Wer es zur Hand nimmt, dem sei ein Notizbuch nebst Stift empfohlen, denn es will nicht nur gelesen, sondern durchgearbeitet werden. An vielen Stellen finden sich Beispiele, wie die Lernerfahrungen in reales Alltagshandeln übertragen werden können.

In „Stärker als Borderline“ sind nicht nur Debbie Corsos eigene persönliche Erfahrungen eingeflossen, sondern auch die vieler Teilnehmer:innen ihrer Online-Angebote. Wer ein Ohr dafür hat, wird im Hintergrund den vielstimmigen Chor der von Missbrauch und Vernachlässigung bedrohten Kinder hören, die die Autorin in einer gemeinnützigen Einrichtung als Case-Managerin und Aufnahmekoordinatorin betreut hat.

 

Für Menschen mit speziellen Problemen geschrieben

„Stärker als Borderline“ richtet sich in erster Linie an Menschen mit hoher Sensitivität für emotionale Stimuli. Die Betroffenen reagieren deshalb sehr heftig selbst auf nur schwache Umweltsignale und benötigen lange, um ein hohes Erregungsniveau wieder abzubauen. Sie richten sich nahezu bedingungslos an den eigenen Stimmungen und Affekten aus. Ihnen ordnen einen absoluten Wahrheitswert zu. Sie fühlen sich schnell bedroht und führen, wenn überhaupt, nur rudimentäre Realitätschecks durch.

Ihr limbisches System, bei uns allen zuständig für grobkörniges Scannen unserer Umgebung auf Gefahren und Gelegenheiten, springt unglaublich schnell in einen Zustand höchster Erregung. Gelegenheiten werden ignoriert, potentielle Gefahren fokussiert. Es entstehen intensivste Angstgefühle, die automatisch ablaufende Handlungsschemata aktivieren.

Bildgebende Verfahren der Hirnforschung zeigen dies in eindrucksvollen Bildern. Die Verbindungen zum Cortex, mit dem wir unsere Umgebung und unsere emotionalen Reaktionen überprüfen, sind deutlich weniger aktiv. Zuweilen erscheinen sie sogar als völlig blockiert.

Impulsives Handeln bestimmt das Geschehen und erst lange, nachdem sich der Nebel vom Schlachtfeld wieder verzogen hat, stehen die Betroffenen fassungslos und schamerfüllt vor dem angerichteten Scherbenhaufen. Der Job ist gekündigt, weil der Chef unvermutet quer kam; die Beziehung annulliert, weil das starke Eifersuchtsgefühl keine andere Wahl mehr zuließ; die Partnerin verprügelt und der Freund mit haltlosen Vorwürfen überhäuft.

An diesem Punkt scheiden sich die Geschlechter. Männer neigen eher zur physischen Gewalt gegen andere; Frauen eher zu verbalen Attacken und richten physische Gewalt vorzugsweise gegen sich selbst. Beiden Geschlechtern gemeinsam sind Alkohol-, Drogen- und Medikamenten-Missbrauch als Mittel der Wahl zur Selbstberuhigung.

Ein teuflischer Kreislauf. Angetrieben von einem intensiven Erleben innerer Leere und einer erhöhten Angstbereitschaft, die stets auf Wacht ist und mehrdeutige Situationen oder als ambivalent empfundene Menschen mit aller Macht eindeutig macht. Gut oder böse, Schwarz oder Weiß. Das Dazwischen, das viele unserer Alltagssituationen kennzeichnet, ist etwas, das als kaum erträglich empfunden wird.


Ein Instrumentarium zum Umgang mit überschießender Angst für alle

„Stärker als Borderline“ richtet sich an Menschen, in denen die Angst, die uns allen gemeinsam ist, stets sehr präsent ist: Die Angst, von allen verlassen und schutzlos den Gefahren ausgesetzt zu sein.

In unserer psycho-physischen Grundausstattung ist diese Angstbereitschaft ein uns allen eingewobenes Wesensmerkmal. Mit ihr korrespondiert die uns ebenfalls tief eingepflanzte Sehnsucht nach Verbindung und dem Verbundensein; mit uns selbst und mit der Gruppe oder Gemeinschaft, der wir angehören.

Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Vorfahren in den sehr alten Zeiten als Einzelwesen viel zu schwach waren, als daß sie, alleine der Wildnis und ihren Gefahren ausgesetzt, hätten überleben können. Nur die Gruppe konnte das Überleben sichern.

Über viele Jahrtausende hinweg gab es nur wenige Menschen auf unserer Erde und sie waren stets von Auslöschung bedroht. Dieses Erbe tragen wir in uns, es prägt uns und kann uns bestimmen, wenn wir uns seiner nicht bewusst sind.

Die Frage ist, wie es kommen kann, dass die Zahl der Betroffenen mit der fortschreitenden technischen Zivilisation eher zu- als abnimmt?

Eine Antwort auf diese Frage lautet: Invalidierende Umgebungen und traumatische Erfahrungen.

 

Invalidierende Umgebungen und traumatische Erfahrungen

Was meint dieser Begriff?

Wenn relevante Bezugspersonen (Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Trainer:innen) die negativen Erfahrungen eines Kindes immer wieder aufs Neue entwerten und herunterspielen; wenn der Ausdruck von Enttäuschung, Wut oder Trauer unterbunden oder verboten wird; die Schwierigkeiten des Kindes bei der Bewältigung großer Probleme negiert oder als Charakterschwäche gedeutet werden, dann ist es mit einer invalidierenden Umgebung konfrontiert.

Invalidierend, weil die Gefühlswelt des Kindes brutal negierend, ist auch die in den Industriegesellschaften immer noch sehr verbreitete Anforderung an das Baby, alleine und getrennt von den Eltern einschlafen zu sollen. Auf diese Weise lernt das Kind bereits sehr früh, dass es sich auf seine Bezugspersonen nicht verlassen kann. Das Baby schreit seinen Kummer ins Leere und kein freundliches Gegenüber nimmt sich seiner Bedürftigkeit an.

Es dürfte ein Spezifikum der westlichen Kulturen sein, ihren Schutzbedürftigsten eine solche Erfahrung abzuverlangen.

Die einseitige Förderung von technischer Rationalität in unseren Gesellschaften hindert überdies Kinder und Jugendliche daran, Emotionen und Gefühle, die wir benötigen, um in unserem Leben sinnvoll handeln zu können, so zu regulieren, dass sie als gültige Ereignisinterpretation und Handlungsmotivation verwendbar sind.

 

Nicht nur Kinder und Jugendliche sind von Invalidierung betroffen.

Die Entwertung von Lebenswelten, von beruflichen und kulturellen Erfahrungen, von Sprechweisen und regional spezifischen Formen der kulturellen Realitätsverarbeitung greift in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter um sich. Rollenmuster lösen sich auf, ohne dass echte, lebbare Alternativen, an deren Stelle treten konnten.

Im Zuge der Digitalisierung und als Folge forcierter Globalisierung von Warenproduktion und Verkehr nimmt die Zahl derjenigen zu, deren Bedürfnis nach Bindung und Verbindung, nach Stabilität im Wandel und dem Erleben von Selbstwirksamkeit unerfüllt bleibt.

„Invalidierung“ wird zu einer Erfahrung, mit der immer mehr von uns konfrontiert sind. Das Leben wird zunehmend als unsicher, prekär und als fragil erfahren.

 

Erlebte Gewalt

Es ist also kein Zufall, dass sich in den Lebensläufen von den Menschen, an die sich das Buch von Debbie Corso richtet, auch Erfahrungen von physischem und psychischem Mißbrauch oder anderer schwerer Gewalterfahrung finden.

Selbstverständlich und Gott sei Dank gibt es viele Menschen, die kein von überschießender Angst geprägtes Verhalten oder Erleben zeigen, auch wenn sie mit traumatischen Ereignissen konfrontiert wurden und in invalidierenden Umgebungen aufgewachsen sind oder in ihnen leben. Solche Menschen sind resilient.

Und das, was Debbie Corso in ihrem Arbeitsbuch uns zu üben nahe bringt, ist die Fähigkeit zur Resilienz.

 

Resilienz ist erlernbar

 Impulsives Handeln zur Angstabwehr als kurzfristig erfolgversprechende Verhaltensstrategie ist meistens eine Lernerfahrung und kein unabwendbares, biologisch bedingtes Schicksal.

Wir Menschen sind lernfähig. Wir können dysfunktionales Erleben, Denken und Handeln durch funktionales ersetzen. Dies gelingt nicht immer, nicht zu allen Gelegenheiten und auch nicht allen. Doch immerhin so vielen und auch so oft, dass Debbie Corsos Zuversicht, die sich durch ihr Buch zieht, vollkommen berechtigt ist, wie ich finde.


Den Kreislauf durchbrechen

Das Training, das Debbie Corso uns bietet, orientiert sich in seinen wesentlichen Inhalten an der von Marsha Linehan begründeten Dialektischen Verhaltenstherapie (DVT), die, von ihr für Menschen mit Borderline-Symptomatik entwickelt, mit guten Erfolgen eingesetzt wird.

Das „Skill-Training“ ist ein Baustein dieser Therapie-Form. Es wird parallel zur Therapie eingesetzt und von speziellen Trainer:innen durchgeführt, wie Debbie Corso eine ist. Auf diese Weise können sich Therapeut:innen auf die Themen konzentrieren, die bei der Behandlung von Patient:innen mit Borderline-Symptomatik am Dringlichsten ist. Auf den Abbau von selbst-verletzendem, suizidalen Verhalten und der Verarbeitung erlebter Traumatisierungen.


Die vier Themenbereiche des Buches

Ehe wir in die einzelnen Kapitel einsteigen, erneut meine Empfehlung: Sich ein Notizheft zulegen und die Übungen nacheinander durcharbeiten. Das bringt zusätzlich zum Lesen den größten Nutzen.

 

Dem eigenen Leben mehr Beachtung schenken – mit Achtsamkeit

Im ersten Kapitel erfahren wir, wie wir unserem Leben und uns selbst mehr Beachtung schenken können. Es führt uns zu unserer Fähigkeit zur „Achtsamkeit“ und zeigt mit einfachen Übungen, wie wir sie trainieren können.

Für Debbie Corso (und die Dialektische Verhaltenstherapie) meint „Achtsam sein“, daß wir im Augenblick des Erlebens uns gleichzeitig darüber bewußt sind, was wir erleben. Dazu benötigen wir den „Inneren Beobachter“. Wir verschmelzen nicht mit dem, was wir erleben, sondern wir erleben es und nehmen gleichzeitig wahr, was und wie wir es erleben.

Meine Gefühle dürfen da sein, ebenso meine Gedanken und meine Handlungsimpulse. Und es gibt dazu noch mich, der dies alles beobachtet, ohne einem unmittelbaren Handlungsimpuls folgen zu müssen.

 

Lernen, sich zu fokussieren

Mit der Fähigkeit zur Achtsamkeit lernen wir auch, uns zu fokussieren.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit willentlich auf das, was uns wichtig oder wesentlich ist und schieben störende Ablenkungen zur Seite: „Ah, da steht ein kleiner blauer Elefant neben dem großen Rosafarbenem.“

Multi-Tasking oder Themen-Hopping sowie der unaufhörliche Konsum elektronischer Medien lenken uns heute oft vom Wesentlichen ab. Wir fallen in eine Art Trance, die uns aus dem tatsächlichen Geschehen in ein Nirgendwo entführt, in dem wir weder spüren, wer wir sind, noch was wir wirklich wollen.

Wer dies einmal an sich erleben will, dem empfehle ich ein Experiment: bewusst einen Fernseh-Abend zum Thema Corona durchhalten, dabei Facebook folgen, gerne auch Twittern; nebenher noch ein-, zwei Folgen der Lieblings-Netflix-Serie laufen lassen und auf keinen Fall den Fußball-Ticker verpassen. Wer mag, kann auch noch telefonieren, sich mit Kindern oder dem Partner unterhalten und eine Produktpräsentation für den kommenden Tag erstellen.

Dies vermittelt die Erfahrung, um die es mir hier geht und in der nicht wenige von uns heute leben.

Mit dem Fokus, den ich nach jeder Störung neu ausrichte und setze, kann ich besser beunruhigende Gedanken über die Zukunft oder die Vergangenheit beiseite schieben, wenn sie mich im Hier und Jetzt am vernünftigen Überlegen oder am Einschlafen hindern.

 

Akzeptanz und Stress-Toleranz üben

Der Innere Beobachter führt zur Akzeptanz und damit zum Thema „Stress-Toleranz“, mit dem sich das zweite Kapitel befasst.

Wir benötigen Stress-Tolerenz, weil es nun einmal sein kann, dass für eine schwierige Situationen keine unmittelbare Lösung zur Hand ist. Sie muss erst noch gefunden, entwickelt und umgesetzt werden. Das kann Zeit und Energie erfordern, wie wir in den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie im Grunde alle erfahren haben.

An diesem Punkt kann gefühlter seelischer Schmerz sehr wertvoll sein. Denn er schenkt uns die Energie, die wir benötigen, um in unserem Leben etwas zu ändern oder zu erreichen, das nur mittel- oder langfristig machbar ist.

Betäube ich dagegen meinen Schmerz mit Alkohol- Medikamenten, übermässiger Handynutzung, Pornographie, Essen, als Nachrichten-Junkie oder mit Hyper-Aktionismus, raube ich mir selbst die Energie, die es zum wirkungsvollen Dranbleiben braucht. Betäuben, Ignorieren, Wegschieben oder Ausagieren helfen hier meistens eben genau nicht.

Wir können lernen, furcht- und angstgeprägte Gedanken beiseite zu schieben, damit sie uns nicht lähmen oder hindern, sinnvoll zu handeln.

 

Schmerz und Leid - ein relevanter Unterschied

Das buddhistische Denken unterscheidet zwischen Schmerz und Leid. Leid fügen wir uns selbst zu, wenn wir uns in unserem Schmerz verheddern oder ihn betäuben, denn dann wir hängen ewig an ihm fest.

Diese Unterscheidung zwischen Schmerz und Leid prägt das therapeutischen Vorgehen von Marsha Linehan und findet sich auch in „Stärker als Borderline“.

 

Gefühle regulieren

Das dritte Kapitel des Arbeitsbuches befaßt sich mit der Regulierung von Gefühlen. Es stellt die entscheidende Frage: „Wie können hochsensible Menschen sich davor bewahren, von einer Welle eskalierender, emotionaler Überwältigung erfasst und davon getragen zu werden?“

Eine Frage, vor der nicht nur hoch-sensible Menschen stehen. Wenn wir einmal unsere bisherigen Lebenserfahrungen durchgehen, findet sich bei vielen von uns sicher die eine oder andere Situation, in der wir, von Gefühlen überwältigt, falsche Entscheidungen getroffen oder uns selbst oder andere gefährdet haben. Und sei es nur beim allseits beliebten „Mal eben noch schnell bei Dunkel-Gelb über die Ampel huschen“, weil wir sonst zu spät zur Arbeit kommen.

Selbstverständlich wird auch umgekehrt ein Schuh daraus: Wer glaubt, rein rationale Entscheidungen zu treffen und der Meinung ist, dafür seine Emotionen ignorieren zu müssen, liegt ebenfalls daneben. Gefühle sprechen bei jeder Entscheidung stets ein gewichtiges Wort mit. Ob wir dies nun wahrhaben wollen oder nicht.

Die Methode der Wahl entstammt der klassischen Verhaltenstherapie. Emotional bedeutsame Ereignisse analysieren: Was ist da passiert? Wie benenne ich mein Gefühl, das mich da antreibt oder überwältigt. Die Gedanken und Überzeugungen beschreiben, die mich erfüllen. Sie auf Sinnhaftigkeit und Angemessenheit hin untersuchen. Dabei gilt es auch auf die Signale des Körpers zu achten, denn Körper und Geist bilden eine Einheit, deren Elemente sich gegenseitig beeinflussen. „Wie geht es mir in dieser Situation in meinem Körper?“

Mit derselben Methode kann jede:r, der nichts fühlt, sich Schritt für Schritt an das reale Geschehen in seinem Inneren heranwagen. Und zu sinnvolleren Entscheidungen und wirkungsvollerem Handeln gelangen.

Mit dem Abschnitt über „Realitäts-Check“ bekommen wir einen weiteren wesentlichen Baustein für situationsgerechtes und wirksames Handeln an die Hand.


Beziehungsarbeit

Im vierten und letzten Kapitel von „Stärker als Borderline“ geht es um die Königsdisziplin der „Beziehungsarbeit“.

Unser Gehirn ist, so sagt es zuweilen die Fachliteratur, vermutlich deshalb so komplex aufgebaut, damit es die Komplexität unserer sozialen Beziehungen adäquat handhaben kann. An dieser Auffassung ist etwas dran, wie ich finde.

Debbie Corso nennt drei Ziele, die nicht nur für private Beziehungen wichtig sind und in der Regel eher häufiger als seltener miteinander in Konflikt stehen: selbstbewusste Durchsetzung eigener Ziele, Aufrechterhaltung der Beziehung und Wahrung der Selbstachtung.

Wie wir mit einander widersprechenden Zielen gut umgehen können ist eine Kunst, in deren Anfangsgründe wir eingewiesen werden.

Das Schwierigste, mit dem wir in Beziehungen konfrontiert sind: wir haben keine Kontrolle darüber, wie unser Gegenüber auf uns reagiert. Wir haben nur Vermutungen und Annahmen, aufgrund derer wir handeln und die wir immer wieder aufs neue auf ihre Gültigkeit hin überprüfen müssen.

Uns bleibt als sinnvollste Vorgehensweise, die Reaktionen des Anderen als Feedback der Realität anzunehmen und das eigene Handeln, an ihr auszurichten.

Bei der Bewertung des Verhaltens meines Gegenüber haben sich drei Grundhaltungen bewährt:

1. Andere Menschen sind meist weniger mit mir als vielmehr mit sich selbst beschäftigt.

2. Es ist in der Regel sinnvoller, dem Anderen eine mir gegenüber neutrale Haltung oder positive Absicht zu unterstellen als eine negative.

3. Es ist klüger, die Handlung des Gegenüber von seinem Charakter zu trennen: „Du, ich fühle mich von dem verletzt, was hier passiert ist“ statt: „Du hast mich verletzt, weil ich Dir sowieso egal bin“.

Zweifellos gibt es auch toxische Beziehungen. Achtsamkeit und vorbehaltlose Akzeptanz der Situation helfen auch hier, sie zuverlässiger zu erkennen und sie hinter sich zu lassen. Sich dafür auch Hilfe von außen zu organisieren, ist ehrenwert und kein Zeichen von Schwäche oder ein Grund für Scham.

Deshalb will gut überprüft sein, was wir in einer konkreten Situation genau erreichen wollen und der Weg zur Verwirklichung unserer Vorhaben wohl überlegt. Denn es gibt stets mehr als nur eine Handlungsoption.

Möglichst alle gangbaren Wege gilt es abzuwägen bis die beste Option herausgearbeitet ist. Und selbst bei ihr lassen sich oftmals bereits vorab Hindernisse identifizieren, deren Beseitigung pro-aktiv angegangen werden kann.

Für diese Dinge können wir unsere Kreativität und Phantasie in vollem Umfang und völlig hemmungslos einsetzen. Leider haben wir meistens eher gelernt, uns plastisch und konkret vorzustellen, was nicht geht als das, was gehen könnte und wie.

Dabei steht uns das wundervolle Vermögen der Visualisierung zur Verfügung. Debbie Corso zeigt uns auch hier, wie wir es einsetzen können, um das zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben.

Wem beispielsweise nur „Lockdown“ und „Impfen“ einfällt, wird keinen vernünftigen Ausweg aus der Pandemie finden. Produktionsschwierigkeiten können auftreten oder Impfstoffe doch nicht so sicher sein, wie erhofft.

Dies haben die vergangenen zwölf Monate ausreichend klar erwiesen, wie ich finde.

Debbie Corso steht hier für etwas ein, das in großen Unternehmen „Growth Mindset“ heißt. In Möglichkeiten denken, ist für uns alle eindeutig die bessere Herangehensweise an unsere Probleme. Sich abschotten, sich isolieren und erfolglos immer wieder das Gleiche tun hält Probleme munter am Leben und löst sie nicht.

Es gilt hier der bewährte Grundsatz: Wenn das, was wir tun, nicht funktioniert, dann sollten wir einmal etwas anderes versuchen.

 

Das Geheimrezept für Validierung

Wir leben in einer Zeit, in der die Bereitschaft zum Hass sich an vielen Orten und zu allen möglichen Gelegenheiten ungezügelte Bahn bricht.

Das Geheimrezept, das Debbie Corso in ihrem Buch hier empfiehlt: mir selbst und dem anderen authentisch und wahrhaft vermitteln, dass ich verstehe, warum wir beide jeweils so empfinden und auf diese Weise reagieren.

„Das wars dann schon“, schreibt sie und helfe in neun von zehn Fällen.

Wir erkennen damit an, was unsere und die Wirklichkeit unseres Gegenübers ausmacht. Wir müssen nicht der gleichen Meinung sein, um gesündere Beziehungen zu erreichen oder gemeinsam Lösungen für schwierige Probleme zu erreichen. Auf die wertschätzende Haltung kommt es an. Auch da stimme ich Debbie Corso zu.

 

Neues Denken wächst auf neuen Erfahrungen

Neues Denken wächst auf neuen Erfahrungen. Das ist ein Grundsatz, den Debbie Corso uns mit ihrem Buch nahe bringt und den wir fruchtbar in unserem Leben anwenden können.

Mit Hilfe der Übungen aus „Stärker als Borderline“ stärken wir Schritt für Schritt unsere Selbstachtung und unser Selbstvertrauen. Wir ermöglichen uns eine realistischere Einschätzung dessen, was wir bewirken können. Wir lernen, selbstverantwortlich unsere Werte in unserem Leben zu verwirklichen und ihm dadurch Sinn zu verleihen.

Sinn, Fülle und Verbundenheit treten an die Stelle von Leere, permanenter Angst und Verlassenheit.

Was kann es Wichtigeres geben in unserer von Corona geprägten Zeit, in der wir unsere Mitmenschen auf Abstand halten und uns gelehrt wird, die zu fürchten, derer wir bedürfen, weil sie vielleicht einen Virus in sich tragen, der uns das Leben rauben kann?

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen beim Durcharbeiten des Trainingsbuches.

Dieter Weiser